Beschreibung
Soooooooooooo viele! zeigt Fotografie von Gruppen zwischen Standesrepräsentation, Vereinsmeierei und Kunstdiskurs und spannt einen Bogen von der Fotogeschichte des 19. Jahrhunderts bis zur zeitgenössischen Fotokunst. Vom Kreis zur Kolonne, von der Menge zur Masse oder von der Familie zu facebook: Im Mittelpunkt des Geschehens steht immer der Mensch als Gruppe.
Aufmarsch • Belegschaft • Chor • Defilee • Ensemble • Formation • Genossenschaft • Harem • Jury • Komitee • Legion • Mannschaft • Nachhut • Orchester • Partei • Rudel • Schule • Team • Union • Verein • Warteschlange • Zunft. Die deutsche Sprache kennt unzählige Begriffe, mit denen Gruppen bezeichnet werden, und in der Fotografie ist seit 1845 eine Vielzahl solcher Formationen dokumentiert. Klassisch ist die Vereinsfotografie, die mit ihren vielfältigen Anordnungen und schmückenden Objekten nicht zuletzt zur Selbstdarstellung und Standesrepräsentation hergestellt wurde. Bekannt sind auch all die familieninternen Feiern, bei denen man zusammenkommt und sich austauscht. Hierbei hat das Gruppenbild Erinnerungscharakter und dient als visueller Verstärker der Verwandtschaft. Auch im Sport hat sich das Gruppenbild weitgehend gehalten, auch wenn es sich in seiner Strenge, ähnlich wie in der überaus traditionsreichen Schulklassenfotografie, etwas gelockert hat, aber immer noch der magischen Selbstvergewisserung und dem sozialen Zusammenhalt dient.
Bis dato gab es keine eigenständige Publikation zum Thema Gruppenfotografie, das Buch schließt diese Lücke auf unterhaltsame und informierende Weise. Was Wanderfotografen, Fotostudios, Landfotografen oder Fotokünstler im Laufe der Zeit an Massen von Vereinsporträts, Fabrikbelegschaften, Hochzeitsgesellschaften, Massenversammlungen, Menschenketten oder Demontrationsumzügen abgelichtet haben ist üppig.
Ausgehend von fünf (kunst)historischen Gruppenbildformen – Tischsituation, Schlachtengemälde, Bürgerrepräsentation, Demonstrationsgestus und Nummerndramaturgie – ergründet die opulente Publikation anhand von 1800 Fotografien seit 1843 die Traditionen und Neuschöpfungen in der Gruppenfotografie. Dabei werden nicht nur frontale und gereihte Formationen (Klassen, Vereine, Belegschaften etc.) untersucht, sondern auch unbestimmte Mengen wie Versammlungen, Fankurven oder Warteschlangen. Ob das Gruppenbild ein inszeniertes Produkt des Fotografen und Fotokünstlers ist oder ob es sich aus dem vertrauten Zusammenhalt und der sozialen Binnenstruktur ergibt, wird fotohistorisch profund erörtert. Es wird die Frage aufgeworfen, ob heute die Sehnsucht nach der Gruppe nicht wieder stärker geworden ist (Stichwort: soziale Medien mit ihrer Ausfilterungen von Partikularinteressen), nachdem das Individuum angesichts von Teamgeist, Schwarmintelligenz und Menschenketten an Relevanz eingebüsst hat.
LESEPROBE
Vereinsfotografie
Die bekannteste Form der Gruppenfotografie dürfte die Vereinsfotografie sein. In einer Zeit, da der Fotoapparat noch nicht zur persönlichen Ausrüstung gehörte, war das Bild einer verbindlichen Gemeinsamkeit ein wichtiges Medium, ein Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Vereinsfotografie visualisierte den sozialen Halt durch die dieselbe Gesinnung. Als Einzelanfertigung für das Vereinslokal war diesem Abbild inmitten von identitätsstiftenden Fahnen, Kränzen, Urkunden und Preisbechern auch ein guter Platz beschieden.
Die optisch ornamentale Aufstellung der zumeist gleich gekleideten Vereinsmitglieder und ihren zugewandten Randzonen, die Eingliederung jedes einzelnen als physischer und sozialer, unabdingbarer Teil des Vereins zu einem bestimmten Zeitpunkt, die schmückenden Objekte, die ihrerseits den Verein kennzeichnen und dessen Geist über Jahre und Jahrzehnte tradieren, auch wenn Mitglieder wechseln und Vorstände mutieren, all das macht das Vereinsfoto zur kollektiven Willenskundgebung. Es ist die zeitaktuelle und tradierte Leistung, als Einheit zu bestehen, und zwar gemäss eines bürgerlichen Grundgedankens: alle für alle. Vereinsfotografie ist also Ausdruck der übergeordneten Gesellschaft. Sie ist die kleinste Struktur, die eine nationale Struktur begründet und aufrechterhält. In der Vereinsfotografie zeigt sich die Willensnation, wobei Partikularinteressen weitgehend ausgegrenzt sind.
Die Fotografie ist damit auch ein sichtbares Zeichen gegen innen; als historisches Referenzbild vermag sie zu einigen, nur aufgrund der Tatsache, dass sie existiert. Die Fotografie als Dokument, Summe und Leistungsausweis des Vereinslebens wird vor allem dann sichtbar, wenn das Bild im Kontext eines festlichen Anlasses oder Wettbewerbs hergestellt wird (Musik, Sport, Theater). Die ideologische Perspektive des Bildes ist somit rückwärtsgewandt und wertkonservativ. Das im Bild manifeste Selbstwertgefühl ist nicht individuell-solitär konditioniert, sondern sozial-kooperativ. Das Bild ist nämlich eine Vergewisserung: Weil ich im Bild bin, bin ich in der Gruppe und von ihr getragen, wie ich die Gruppe mittrage. Die Zweckbestimmung der Gruppe transferiert deren Sinn auf mich und umgekehrt; es gibt ein gutes Gefühl, in der Gruppe zu sein. Die starke Bindung, formalisiert im Gruppenbild, konstituiert das Aufgehoben und Getragensein, trotz einer etwaigen Uniformierung.
Der formale Aufbau von Vereinsfotografie folgt gewissen ästhetischen Gegebenheiten. Die Frontalität hat mir der Aufnahmesituation zu tun: Das Abgebildete hat logischerweise vor der Kamera zu stehen. Dann ist aber die Kamera selber, resp. der das Format des Bildträgers wesentlich stilbildend. Der Fotograf hat stets versucht, seine Platte optimal auszunützen und mit der abzulichtenden Gruppe zu füllen, weshalb es in der Frühzeit der professionellen Fotografie aufgrund der Kameratechnik vor allem stumpfe Querformate sind. Geeignete Orte für Aufnahmen waren somit Treppen und Aufgänge, ihrerseits architektonische Muster zur Steigerung von Repräsentation und Schaugepränge.